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Über die Neugier auf das Fremde und den Mut, mit Kindern zu reisen

Wie langsam und gemächlich fährt so ein Schiff vorbei. Man sieht es schon von Weitem. Der Bug pflügt gemütlich durch das Wasser, schiebt eine sanfte Welle vor sich her und wird langsam größer. Das Schiff bietet dem Betrachter viele Augenblicke, um es in seiner ganzen Schönheit zu bewundern, bis es ihm das Heck zuwendet und schließlich wieder kleiner wird – bis es als kleiner Punkt um die nächste Flussbiegung verschwindet.

Schiffspassagiere brauchen viel Zeit für Routen über die Flüsse und Meere der Welt, von Hamburg nach Istanbul, von Kapstadt nach Tallinn oder von Hongkong nach San Diego. Noch vor wenig mehr als hundert Jahren war die langsame Fahrt mit dem Schiff die übliche Methode, um auf Reisen zu gehen und fremde Länder und Kulturen zu erkunden. Man war leicht einige Wochen unterwegs, um überhaupt an das gewünschte Ziel zu gelangen. Die Reise konnte beschwerlich werden, aber vor allem war sie, was das Wort besagt: Aufbruch – und zwar in Unbekanntes.

Der Vorteil des damaligen Reisestils war allerdings die allmähliche Einstimmung auf die Fremde. Man näherte sich an, im wahrsten Sinne des Wortes, zu Land oder zu Wasser aber noch nicht in der Luft. Die Landschaft veränderte sich zusehends, die Sprachen wechselten, die Gebräuche wurden fremder, die Kleidungsstile ebenso, das Essen war ungewohnt. Wer offen für Neues, für Fremdes und in den eigenen Augen vielleicht auch Merkwürdiges war, hatte es leichter. Die anderen begegneten sich auf ihrer Reise vorwiegend selbst.

Mann_mit_Hut_und_Rose_auf_Schiff_Thailand

Reisen ohne Flugzeug

Eine Reise vor 100 Jahren erforderte Mut. Wer im Jahr 1900 nach Südafrika aufbrach, hatte eine lange Schiffsreise vor sich, das Gepäck nicht viel mehr als Kleidung und einige Habseligkeiten sowie zumeist verwirrende Geschichten von Heimkehrern im Kopf. Vor Ort angekommen konnte es passieren, dass die Route, die bis zum endgültigen Ziel im Inland noch zu bewältigen war, zusätzliche 1.000 km betrug – keine Seltenheit in dem riesigen Land, das vom äußersten Südwesten bis zum letzten nordöstlichsten Winkel fast die doppelte Kilometerzahl bemisst. Also hinauf auf die Kutsche, durch den Staub der Karoo, mit Kind und Kegel oder auch allein, brennende Sonne, streng geknöpfte Kleidung, Sonnencreme – wo denken Sie hin?

Wer heute nach Südafrika reisen möchte, bucht sich online einen Flug, besteigt am Flughafen seinen Mietwagen und fährt los – am Abend das erste Glas Chardonnay in den Zedernbergen? Kein Problem! Noch nie war es für Menschen so einfach zu reisen, noch nie ging es so schnell, einmal um die halbe Welt zu fliegen und noch nie war dies so vielen Menschen möglich – zeitlich, finanziell, aufgrund ihrer persönlichen Freiheit und den immer durchlässiger werdenden Grenzen. Insbesondere für Europäer gibt es nur noch wenige Länder auf der Welt, die die Visumsvergabe verweigern. Wenn dann die Urlaubstage und die Kasse stimmen, können es sich immer mehr Menschen leisten, auf Reisen zu gehen. Wer Familie hat, nimmt sie mit.

Alles andere ist aber doch so einigermaßen gleichgeblieben. Die anderen sind anders geblieben, wer heute nach Kenia, Kuba oder Korea reist, begegnet nach wie vor dem Fremdem, so wie die Reisenden vor 100 Jahren auch. Oder doch nicht?

Griechenland

Überall Fastfood?

Zuerst kommt in den Sinn, wie viele Unternehmen es gibt, die international operieren: Fast Food, Kleidung, Schuhe, Supermärkte. Dazu noch die vielen Produkte, die international verkauft werden und in den Shops zum Kauf feilgeboten werden. Da ist es ja fast schon ein Wunder, dass es in einem Supermarkt überhaupt noch ein Lebensmittel gibt, das wir noch nicht kennen! Stimmt das? Gut, ein Hühnchen bleibt ein Hühnchen und Salz bleibt Salz. Aber die Mangos schmecken in Port Elizabeth einfach ganz anders als in Wolfsburg. In Wolfsburg würde man auch nicht auf die Idee kommen, an einer Autobahnraststätte zum Frühstück Pommes mit einem Steak anzubieten – als Beilage zum English Breakfast, versteht sich. Auf dem Weg durch die Karoo von Kapstadt nach Johannesburg kann man das ohne Weiteres bestellen. Und wer von zu Hause einen Grillabend kennt, weiß noch lange nichts über den südafrikanischen Braii. Diese Beispiele ließen sich nun für alle Länder der Erde vortrefflich fortführen. Überall finden wir viele kleine und große Dinge, die wir von zu Hause nicht kennen.

Oberflächlich betrachtet sind all diese Dinge sicher nicht völlig neu und auch nicht dramatisch fremdartig. Aber sie symbolisieren die Kultur des jeweiligen Landes. Die Kultur liegt unter der Haut, sie offenbart sich in den vielen kleinen Alltagsdingen, den Selbstverständlichkeiten, den Routinen und Gewohnheiten und dem, was in dem einen Land möglich ist und in dem anderen auf Unverständnis stößt. Je näher sich zwei Kulturen sind, desto zarter werden die Unterschiede. Und umso mehr Erstaunen kann ein plötzlich entdeckter Unterschied auslösen.

Die Gretchenfrage ist für den Reisenden damals wie heute: Wie umgehen mit den Unterschieden? Wie mit dem Fremden? Das Selbstverständliche in der Erkenntnis zu sehen, dass Unterschiede da sind, ist wohl die erste Herausforderung. Nur weil ein Mensch in ein fremdes Land reist ist er noch lange nicht mental dort angekommen. Neugierde war vor 100 Jahren einer der treibenden Motoren für Menschen, die beschwerlichen und oft auch gefährlichen Reisen in die Ferne auf sich zu nehmen. Neugierde setzt Offenheit voraus, sich mit dem beschäftigen zu wollen, das in der Ferne wartet. Wissen wollen ist Neugierde.

Kinder fordern uns heraus

„Mama, was ist das für eine komische Frucht?“ „Papa, wie heißt das Tier?“ Kinder sind immer neugierig. Wer schon einmal mit Kindern unterwegs war, kennt die vielen Fragen, die die Kleinen bewegen. Dabei bringen Kinder die Erwachsenen oft in eine ambivalente Situation. Gerade wenn es heikel wird, wenn das Fremde besonders merkwürdig erscheint und der Mut besonders groß sein muss, sind Eltern zweifach gefordert. Dann heißt es, dem Nachwuchs die Gewissheit zu vermitteln, alles sei in bester Ordnung und wunderbar und gleichzeitig die eigenen inneren Hürden, Ängste und Vorbehalte beiseite zu räumen, damit das, was man tut, mit dem, was man sagt, auch übereinstimmt.

Die einfachere Variante wäre natürlich, der Neugier die Tür zu versperren. Das Fremde als Fremdes zu identifizieren, abzukanzeln und als uninteressant und nicht wissenswert auszusperren. Aber wer sagt das schon gern seinem Kind? Das kenne ich nicht und ich möchte es auch nicht kennenlernen. Was ich nicht kenne wird nicht gut sein, eher schlecht, es ist nichts für uns und wir wollen uns nicht damit befassen. Sind das die Werte, die gerade state of the art sind? Die Eltern heute ihren Kindern vermitteln? Wohl eher nicht. Sie passen nicht zur Weltoffenheit, Vielsprachigkeit und Kulturtoleranz einer ganzen Elterngeneration, die gerade wieder einmal die Koffer packt und zu einer neuen Reise aufbricht.

Griechenland

Alles so schön bunt hier

Vielmehr wachsen Kinder heute in eine Welt hinein, die immer mehr von sich weiß. Der Alltag in Peking? Ein Seilbahnunglück im Skigebiet von Seattle? Der beste Wein aus Stellenbosch? Wir finden es heraus, wir hören es in den Nachrichten, wir bestellen es online. Für unsere Kinder wird das der normale Alltag sein. Grenzen gibt es für sie nur in Einzelfällen physikalisch, sie materialisieren sich in einem Pass, einem Visum oder der Warteschlange in der Abfertigungshalle des Flughafens. Ansonsten liegen sie 4000 m unterhalb des Flugzeugbodens, lösen sich im Netz vollständig auf oder transformieren sich in Form von Zensur. Grenzen haben für die Generation unserer Kinder eine andere Dimension. Sie werden immer weniger als Staatsgrenzen definiert, sondern immer mehr als Grenzen zwischen Möglichem und Nichtmöglichem. Zwischen Offenem und Geschlossenem. Zwischen „da kann ich hin“ und „da kann ich nicht hin“. Zwischen Sicherheit und Gefahr.

Macht das Fehlen von spürbaren Grenzen die Menschen automatisch gleicher? Wird Kultur plötzlich fließender, verschwimmender, luizider, wenn sich die Angehörigen der Kulturen häufiger untereinander besuchen? Sich austauschen? Miteinander arbeiten, leben? Oder behaupten sich Kulturen gerade da, wo sie nicht mehr selbstverständlich von allen anderen auch repetiert und gelebt werden?

Es gibt Beispiele für beides. Interkulturelle Annäherung fördert die Übernahme von kulturellen Ausprägungen und Verhaltensweisen der jeweils anderen Kultur genauso wie es die Behauptung der eigenen Kultur verstärkt. Um dies zu erkennen, in der Begegnung mit dem jeweils anderen seine Kultur zunächst zu sehen und damit die Möglichkeit für Toleranz und Respekt ihr gegenüber überhaupt ausbilden zu können, ist interkulturelle Sensibilität vonnöten. Wir tun schon viel dafür, diese Sensibilität herauszubilden. Diversity Management ist eines der Stichworte, interkulturelle Verbindungen und Kulturaustausch weitere. Reisen ist auch eine gute Möglichkeit, eine solche Sensibilität herauszubilden. Zunächst fordern wir sie vielleicht nur von uns selbst ein. Aber wir geben sie damit auch an unsere Kinder weiter, machen sie aufmerksam auf das, was in der fremden Kultur anders ist und versuchen ihnen in ihrer Neugier Orientierung zu geben.

Die Generation unserer Kinder wird vielleicht in großer Selbstverständlichkeit die kulturellen Differenzen zwischen Menschen, Orten und Gewohnheiten annehmen, akzeptieren und in ihrer Pluralität nebeneinanderstellen. Vielleicht wird sie sie noch nicht einmal mehr bewerten, sondern als das Normale leben. In einer Welt, in der es für viele Menschen kaum noch räumliche Grenzen gibt, in der man quasi „auf der ganzen Welt zu Hause ist“, ist diese Einstellung eine Voraussetzung für das Gelingen von Gemeinschaft und Zusammenleben. Und dies betrifft nicht nur diejenigen, die sich selbst aufmachen um in andere Länder zu reisen, dies betrifft auch diejenigen, die hier leben und den Reisenden bei sich zu Hause begegnen.

Kinder in Marokko