Wer in Nairobi durch die Buchhandlungen schlendert, endeckt einige neue Autorinnen und Autoren. Es gibt natürlich die allgegenwärtige Adichie, aber auch einige andere vorwiegend weibliche Autorinnen, einige Sachbuchbestseller und eine sehr schöne Kinderbuchreihe, die mich thematisch an die Pixie-Bücher meiner Kinder erinnert.

Hans-Christian Andersen in Nairobi?
Aber: Es gibt auch ganz vieles nicht. Bleiben wir im Kinderbuch: Hier findet man nur sehr wenige Titel, die hier in der Region produziert wurden. Etwa zwei Drittel sind Lizenzeinkäufe. Mit dem Effekt, dass die Kinder, die in den Büchern abgebildet sind, naja, halt weiß sind. Mit ihren Geschichten, Erlebnissen und Traditionen. Aber ich frage mich: Was soll ein kenianisches Kind mit einem Hans-Christian-Andersen-Band? Okay, wenn es alle ostafrikansichen Sagen und Märchen schon gelesen hat, und dann mal was exotisches lesen will, wäre es vielleicht etwas. Aber so ist es eben leider nicht, denn die Bücher ber ostafrikanische Märchen fehlen leider. Es gibt sehr viele weiße Bücher hier. Hm.

Freundinnen wissen es doch viel besser
Colette und Milena unterhalten sich über die Vergänglichkeit der Erinnerung ihrer Großmütter. Colette ist gebürtig aus DRC (Democratic Republic of Congo), Milena stammt aus Äthiopien. Beide haben auf der ganzen Welt gelebt, sind sehr gebildet, modern, aufgeschlossen. Wir sitzen im Restaurant und überlegen, welche Nationen im Bewahren von Wissen ihrer Vorfahren besonders gut sind. Denn dass die ältere Generation viel mehr wusste über die alten Dinge, ist natürlich klar: über Kräuter und Rezepte, über die alten Traditionen und Riten. Und selbstkritisch beschreiben sie von sich, sie seien eben sehr an der Moderne interessiert gewesen in ihrer Jugend, vielleicht zu sehr, um das Alte adäquat aufzunehmen und wertzuschätzen. Und nun könnte es bald zu spät sein und das Wissen mit denen gehen, die es noch bewahren.

Ist allein das Buch die Lösung?
Was passiert, wenn die Großmütter und Großväter gehen? Wer bewahrt ihr Wissen? Europas Antwort darauf ist das Buch. Seit Jahrhunderten schon. Aber ist diese Antwort für Kenia, Äthiopien und die Republik Kongo die richtige? Regionen, in denen das Wissen der Generationen immer schon eher mündlich weiteregegeben wurde? Oder ist es vielmehr der Podcast, das Reel oder das Hörbuch? Der Film? Oder was immer gerade zur Hand ist, um Omas Erinnerungen aufzuzeichnen – denn ein Smartphone hat hier nahezu jede/r. Das schwerfällige Buch, das so lange für die Sammlung der Informationen, das Lektorat, die Herstellung und den Druck braucht und dabei auch noch Hundertfach teurer ist als die digitalen Mitbewerber, ist die althergebrachte Antwort Deutschlands (und einiger anderer Länder der Welt) auf die Frage danach, wie man das Wissen der Welt erhalten kann. Doch dass das Wissen der Welt mehr ist als das, was wir in Europa zwischen zwei Buchdeckel pressen, ist uns allen klar. Und mit der Schnelligkeit der Digitalisierung, dem Fokus auf das Hier und Jetzt, verschwinden immer mehr Erinnerungen an das, was mal über Jahrhunderte galt und zu Prämissen des Lebens von Generationen wurde.

Lob für Europa – really?
Unterhalte ich mich mit den Nachkommen der Wissenden, also den Töchtern und Enkelinnen der kräuterkundigen Damen und Großmütter aus DRC, Äthiopien, Kenia oder auch Sambia, so wird mir schnell bescheinigt, dass Europa seine Hausaufgaben in Bezug auf das Wahren von heimatkundlichem Wissen besser erledigt habe. Traditionen seien gewahrt, Geschichten festgeschrieben und alte Riten in die Gegenwart transportiert worden. Ich bin sprachlos. Stimmt das wirklich? Nach all den Jahren, ja fast Jahrzehnten, in denen wir in Europa die Angleichung der Lebenswelten beklagt haben, die McDonaldisierung des Westens, dessen Innenstädte immer mehr einander gleichen, dessen Moden überall dieselben sind, dessen Lifestyle total austauschbar wird, nach all diesen Jahren sollen wir auf einmal einen anderen Kanon singen? Den der gelungen Integration der Tradition in die Moderne, der Bewahrung des Alten im Neuen, der Rückbesinnung auf das Wesentliche unserer Kultur? Ausgerechnet wir? Erst einmal wehre ich ab. Aber dann komme ich ins Nachdenken. Schließlich befasse ich mich rein beruflich oft mit der Geschichte und den kulturellen Traditionen eines Landes, denn in unseren Kinderreiseführern geht es ja oft um genau das.

Alte Backtraditionen in Österreich, hoch zu Ross in Spanien
Und was soll ich sagen? Wenn ich recht darüber nachdenke, so habe ich beim Schreiben meines letzten Kinderreiseführers über Österreich gerade festgestellt, wie es den Österreichern sehr gut gelingt, beispielsweise alte Backtraditionen in die Moderne zu bringen. In den Städten findet man superschicke, moderne Bäckereien, die Brot nach alter Backtradition anbieten. Kaufen das die Jungen auch? Weiter südlich, in Spanien, dem nächsten Band meiner Kinderreiseführerreihe, stellte ich fest, dass sich die dortigen Ferias wachsender Beliebtheit erfreuen. Das sind traditionelle Dorf- oder Stadtfeste, in denen der jeweiligen lokalen Tradition gehuldigt wird, meist in Form von rauschenden Flamencokleidern und hoch zu Ross sitzenden Toreros. Und weit im Norden, beim Dänemarkbuch, wurde klar, dass das Wort Hygge nicht nur ein Marketingslogan ist, sondern ein Lebensgefühl, das die Dänen tatsächlich ganz ernsthaft und kuschelig ausleben, sobald die dunklen Tage anbrechen.

Ein Hoch auf die Vielfalt
Sollte es also wirklich so sein, dass Europa seine Hausaufgaben in Bezug auf die Wahrung der alten Traditionen gemacht hat? Das wäre ja schön. Versteht mich nicht falsch, ich bin keine Traditionalistin. Aber ich liebe kulturelle Unterschiede und deren Geschichte einfach zu sehr, als dass ich sie unter der Gleichmacherei der Moderne verschwinden sehen möchte. Und ich liebe Europa gerade deshalb so sehr, weil es sich trotz aller europäischen Integration seine Eigenheiten offensichtlich doch genug bewahrt hat.

Altes bewahren mit Hilfe des Neuen
Nun kann ich nur hoffen, dass die Länder rund um meinen aktuellen Wohnsitz in Kenia dies ebenfalls tun. Leider haben einige davon aktuell viel existentiellere Probleme als das Bewahren kultureller Identitäten und Traditionen. Da geht es schlicht ums Überleben. Traditionelles Bewusstsein kann dann auch ein Luxusgut werden. Und, wie man gerade hier in der Region oft sieht, auch zum Schwert, um gegen andere, die einer anderen Kultur angehören, vorzugehen. Da bleibt nur zu hoffen, dass Kultur und Tradition für immer mehr Menschen als Bereicherung angesehen wird, und dass es gerade die Vielfalt ist, die uns ausmacht und das Leben spannend macht. Leider habe ich aktuel das dumpfe Gefühl, dass das hier auf dem Kontinent, auf dem ich gerade lebe, noch viel schneller Wissen verschwinden wird wird als in Europa, wenn niemand anfängt, zu bewahren. Vielleicht wird es eine Mischung aus Buch und Digitalem? Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn es in den Buchläden Nairobis bald mehr Geschichten über hiesige Kinder gibt.
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