von Carolin Jenkner-Kruel
Die Sommerurlaube meiner Kindheit verbrachte ich großteils im Engadin, zwischen Silser See und Bergell, mit Schweizer Kühen, vor denen ich Respekt hatte, Nougatschokolade, von der ich nicht genug bekommen konnte und eiskalten Bergseen, in die ich mich nur an sehr warmen Tagen traute. Für den Kinderreiseführer „Schweiz for kids“, der im kommenden Jahr erscheint, durfte ich noch einmal ins Engadin reisen und etwas erleben, das ich als Kind immer verpasst hatte, weil im Mai keine Ferien waren: Die Steinböcke von Pontresina, die zu dieser Jahreszeit bis an den Dorfrand kommen und grasen.
Meine Reise hätte nicht schöner beginnen können als mit der Rhätischen Bahn, die sich zwischen den Engadiner Bergen hochwindet. Aus einem der hinteren Waggons beobachte ich, wie die Lok eine Rechtskurve fährt und mit den vorderen Waggons im Tunnel verschwindet, bis auch ich nur noch die künstliche Beleuchtung im Zug sehe und draußen nur die Dunkelheit des Tunnels. Wenige Sekunden später blendet mich wieder die Sonne und strahlt auf die erhabenen Berggipfel. Die Zugstrecke ist nichts für schwache Nerven und zählt zurecht zum UNESCO-Weltkulturerbe. Dass der Zug auf die Minute pünktlich unterwegs ist, ist in der Schweiz die Regel und nicht die Ausnahme. Und wie selbstverständlich habe ich auch in den Bergen W-LAN im Zug.
Knapp zwei Stunden dauert die Fahrt von Chur nach St. Moritz. In dem berühmten Skiort angekommen geht es in die Jugendherberge, die eine geldbeutelschonende und familienfreundliche Alternative zu den edlen Hotels ist und optional Halbpension anbietet. Die regionalen Gerichte kann man hier in netter Gesellschaft kosten: Familien, Wandergruppen und Einzelreisende treffen hier im Speisesaal aufeinander. Auch unter Schweizern ist die Jugendherberge der Geheimtipp, um in St. Moritz bezahlbar zu übernachten.

Öffentliche Verkehrsmittel sind in der Schweiz ein Traum
Mein Doppelzimmer ist schlicht und zweckmäßig eingerichtet, bietet einen tollen Ausblick auf die Berge und lässt mich gut schlafen, bis mich am nächsten Tag das Steinbockabenteuer ruft. Dafür steige ich in den Postbus, der ebenso pünktlich und W-LAN-ausgestattet ist wie der Zug vom Vortag, und fahre eine kurvige Strecke runter bis nach Pontresina. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein, macht in der Schweiz einfach Freude! Und in Pontresina auszusteigen, macht in jedem Fall neugierig. Mitte Mai ist der Ort noch ganz verschlafen. Zwischen der Ski- und Sommersaison haben viele Hotels geschlossen. Es ist die einzige Möglichkeit für die Hoteliers, ein paar Wochen Pause zu machen. In den schmalen Gassen haben nur einzelne Geschäfte und Restaurants geöffnet, und dass hier gerade Ruhe herrscht, ist ein Pluspunkt für Erholungssuchende an einem verlängerten Wochenende. Wer seinen Blick zwischen den Häusern Richtung Berg schweifen lässt, findet dann aber doch eine Menschentraube etwas oberhalb des Dorfes stehen. Und schon von der Dorfstraße aus kann man mit bloßem Auge ein paar braune Punkte erkennen, die sich zwischen den vom Winter übriggebliebenen Schneematten und den satten Frühlingswiesen bewegen. Obwohl es erst später Vormittag ist und ich mit Christine Salis, einer Wildexkursionsleiterin, erst später am Tag verabredet bin, kann ich sie schon beobachten: die Steinböcke und Steingeissen der Piz-Albris-Kolonie, eine der größten Steinbock-Kolonien der Alpen.

Ich begebe mich also auf die Steinbock-Promenade, einen familienfreundlichen und kinderwagentauglichen Wanderweg oberhalb des Dorfes und nachdem ich einige Höhenmeter überwunden habe, kann ich die stolzen ziegenartigen Tiere genauer betrachten. Rund zwei Dutzend Steinböcke grasen oberhalb von Pontresina, ohne sich dabei von uns Menschen und unseren gezückten Smartphones stören zu lassen. Sie laufen über die Schneefelder, die die Frühlingssonne noch auftauen muss, genießen das satte Gras der Alpenwiesen und schubbern sich am Hang, springen über einen Wassergraben, sonnen sich und lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Erst als ein Steinbock einen anderen jagt, schreckt die Herde auf und galoppiert ein Stück weiter hinauf auf den Hang, bis sie sich wieder dem Gras widmet. Es macht Spaß, ihnen zuzusehen. Insgeheim bewundere ich die Steinböcke für ihre Kletterkünste an steilen Hängen und ihre Anpassungsfähigkeit an die Bergwelt. Für mich haben die Berge etwas von Freiheit und gleichzeitig Naturgewalt. Der Berg ist immer stärker als der Mensch. Ich habe Respekt vor ihm. Und das ist ein gutes Stichwort: Damit wir Touristen uns respektvoll verhalten und die Regeln nicht brechen, ist ein Ranger zugegen, der auch bereitwillig die Fragen der Gäste beantwortet.

Bad mit Alpenblick
Meine Fragen jedoch spare ich mir für mein späteres Treffen mit Christine Salis auf, und besuche zunächst das Bellavita Erlebnisbad & Spa in Pontresina. Das absolute Highlight sind hier die Außenbecken mit wunderschönem Alpenpanorama. Bei 34 Grad Wassertemperatur kann man das ganze Jahr über an der frischen Luft baden, schwimmen und sich von den Massagedüsen den Alltagsstress wegmassieren lassen. Mit moderaten Preisen von 12 CHF (ca. 12,70 Euro) Eintritt für Erwachsene und 6 CHF (ca. 6,30 Euro) für Kinder ist das erstaunlich erschwinglich und im Mai wunderbar leer.
Nach der kleinen Wellnesspause stärke ich mich im Bistro des Schwimmbads und erkunde noch ein bisschen das Bergdorf.
Es ist bereits 16 Uhr, als die Wildexkursionsleiterin Christine Salis mich herzlich in Empfang nimmt. Wir kommen direkt ins Gespräch über das Engadin, meine Sommerurlaube als Kind und natürlich die Steinböcke. Vom Dorfplatz aus machen wir uns auf den Weg zur Steinbockpromenade. Im Moment sind hier viele neugierige Menschen, aber weniger Böcke als heute Vormittag zu sehen. Fünf, sechs Steinböcke grasen zwischen den Schneeteppichen. Ich erzähle Christine von den Steinböcken, die ich am Vormittag gesehen habe und erfahre, dass all diese Steinbockherden, die wir hier sehen, reine Männer-WGs sind, denn die Geißen, also die Weibchen, trauen sich im Mai nicht bis an den Dorfrand. „Die Geißen bekommen in ein paar Wochen, also Ende Mai/Anfang Juni Nachwuchs. Das sind die Kitze. Und die leben bis zu drei Jahre bei der Mutter. Nach diesen drei Jahren wechseln die Böcke auch in die Männer-WG. Nur in der Brunftzeit im Winter leben Geißen und Böcke kurz zusammen. Den Rest des Jahres sind sie getrennt unterwegs.“

Murmeltiere in Sicht
Während wir uns von der Menschentraube immer weiter entfernen und den schönen Panoramaweg entlangwandern, macht Christine mich immer wieder auf Kleinigkeiten aufmerksam, die mir ohne sie wohl kaum aufgefallen wären. „Schau mal an den Bäumen. Da findest du manchmal die Unterwolle der Steinböcke. Die schubbern sich im Frühling an den Bäumen, um ihr Winterfell loszuwerden.“ Ich rupfe das Fell von einem Ast und fühle, wie weich es ist – und ein bisschen riecht es nach Bock. Dass hier überhaupt Steinböcke leben, erzählt Christine, ist gar nicht selbstverständlich. Denn vor 200 Jahren waren die majestätischen Tiere fast ausgestorben. Der Grund war neben einer Hungersnot während der kleinen Eiszeit in den Bergen, in denen die Steinböcke schlicht als Fleischquelle dienten, der Aberglaube. Aus den Eingeweiden und Hörnern der Steinböcke glaubte man Medikamente herstellen zu können. Der Steinbock als Apotheke – heute weiß man, dass das ein völliger Irrglaube war.

Im italienischen Aostatal gab es noch eine Population von 100 Geißen und Böcken im Jagdrevier der italienischen Könige. Die ersten Versuche, den Steinbock in der Schweiz wieder anzusiedeln, machte man im 19. Jahrhundert. Aber die missglückten, weil es sich um Mischungen aus Steinbock und Hausziege handelte. Die konnten in der Wildnis nicht überleben. Man brauchte also die reinrassigen Alpensteinböcke aus Italien. 1906 wurden zwei von ihnen aus Italien in die Schweiz geschmuggelt – für sehr viel Geld. Es gab immer mehr Naturfreunde, die sich für die Wiederansiedlung des Steinbocks einsetzten und so konnten noch ein paar Tiere mehr in die Schweiz gebracht werden. Irgendwann gelang es, dass die Steinböcke sich in freier Natur zurechtfanden und sich vermehrten. Mittlerweile gibt es in der Albris-Kolonie rund um Pontresina etwa 1.800 Steinböcke und sie sind nicht mehr gefährdet, werden sogar zur Hege bejagt. Und sie sorgen dafür, dass sich in dem Bergdorf alles um dieses Tier dreht.
Auch die Sonnenliege, die wir gerade ansteuern, hat Außenkanten, die wie Steinbockhörner anmuten. Hier bietet sich ein wunderbarer Blick zum schneebedeckten Piz Bernina, dem einzigen Viertausender der Ostalpen und dem höchsten Berg Graubündens. Selbst ohne die Sichtung von Steinböcken lohnt sich der Panoramaweg und ich wundere mich, dass hier so wenige Touristen unterwegs sind. Aus den Bergen hören wir ein Pfeifen, das ich noch zu gut aus den Sommerurlauben meiner Kindheit kenne. Irgendwo hier müssen Murmeltiere sein. Christine hat sie mit ihrem geschulten Auge sofort entdeckt und lässt mich durchs Spektiv gucken.

Nach unserer kurzen Rast nehmen wir einen Rundweg zurück ins Dorf, auf dem ich noch viel über die Natur im Engadin erfahre. Die Arvenbäume, deren Holzgeruch ich als Kind schon so gerne mochte, wachsen links und rechts vom Weg. Christine erzählt mir von der besonderen Symbiose, die diese Bäume mit dem Tannenhäher eingehen. Der Vogel pickt die Samen aus den klebrigen Zapfen, sammelt sie in seinem Kropf und würgt sie später wieder aus, um sie als Wintervorrat einzubuddeln. Da er aber rund 20 Prozent seiner Verstecke vergisst, wachsen neue Bäume – teils mit fünf bis sieben Stämmen.
Als sich wenig später der Postbus zurück nach St. Moritz schlängelt, habe ich wunderbare Bilder im Kopf: von den Steinböcken, der wunderbaren Natur im Engadin und einem frühlingsverschlafenen Bergdorf, das einen Familien-Wochenendtrip im Mai auf jeden Fall wert ist.
Transparenz-Hinweis: Die Steinbock-Beobachtung in Pontresina wurde im Rahmen einer Medienreise von Schweiz Tourismus finanziert.